Wie Menschen mit Beeinträchtigungen medizinisch behandelt werden
Foto: Andreas Lander, Pfeiffersche Stiftungen Inklusive Medizin

Wie Menschen mit Beeinträchtigungen medizinisch behandelt werden

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15 bis 20 Jahre. So viel geringer ist die Lebenserwartung von Menschen mit geistiger Behinderung. Das liegt zum einen in Art und Schwere der Behinderung und Folgeerkrankungen begründet. Zum anderen aber auch darin, dass die Regelversorgung unzureichend auf ihre Bedürfnisse und gesundheitlichen Herausforderungen eingestellt ist.

Medizinische Behandlungszentren für Erwachsene mit Behinderungen (MZEB) helfen, diese Lücke zu schließen. Im Jahr 2019 wurde eine solche ambulante Einrichtung auf dem Campus der Pfeifferschen Stiftungen in unmittelbarer Nähe des Klinikums eröffnet. Unter den mittlerweile vier Einrichtungen dieser Art in Sachsen-Anhalt hat das MZEB Magdeburg mit derzeit über 1.500 Behandlungsfällen pro Jahr das breiteste Angebot aufgebaut.

Seine Aufgabe ist die hochqualifizierte interdisziplinäre Versorgung von Menschen, die aufgrund ihrer Einschränkungen in der medizinischen Regelversorgung benachteiligt sind. Weil sie eine schwere Mehrfachbehinderung oder eine geistige Behinderung haben, also eine Intelligenzminderung oder eine erworbene kognitive Störung, zum Beispiel nach einem schweren Schädel-Hirn-Trauma.

»In spezialisierten Zentren, den MZEB, kennen wir die Risikokonstellationen von Menschen mit Behinderungen genauer, wissen, worauf besonders geachtet werden muss.« Dr. med. Sabine Lindquist

»Menschen mit geistiger Behinderung oder sprachlichen Einschränkungen können sich oft nicht klar zu Symptomen äußern und Schmerzen nicht gut anzeigen«, erklärt die Neurologin Dr. med. Sabine Lindquist, die das MZEB der Pfeifferschen Stiftungen leitet. »Auch Menschen mit körperlichen oder sensorischen Einschränkungen reagieren oft anders.«

Eine weitere Herausforderung in der Versorgung dieser Patienten ist die Abgrenzung: Welche Symptome gehören zur bestehenden Beeinträchtigung, welche sind neu? Arztpraxen stoßen hier an ihre Grenzen – es fehlt an Zeit, Erfahrung und entsprechender Ausstattung. »In spezialisierten Zentren, den MZEB, kennen wir die Risikokonstellationen von Menschen mit Behinderungen genauer, wissen, worauf besonders geachtet werden muss«, sagt die Chefärztin.

Ganzheitliche Herangehensweise bei komplexen Gesundheitsproblemen

Die Patientinnen und Patienten, die das MZEB betreut, haben gesundheitliche Probleme, die einen interdisziplinären Ansatz erfordern. »Zum Beispiel unklare Bauchschmerzen bei geistiger Behinderung mit Hydrozephalus und Shunt«, berichtet Lindquist.

Hydrozephalus bezeichnet eine krankhafte Erweiterung der Räume im Gehirn, ausgelöst durch eine Ansammlung von überschüssiger Flüssigkeit. Diese verursacht zumeist einen vergrößerten Kopf und Entwicklungsstörungen. In der Therapie werden flexible Schlauchsysteme, sogenannte Shunts eingesetzt, um Gehirnflüssigkeit in andere Körperregionen – zum Beispiel in den Bauchraum – abzuführen. Diese komplexe Situation erfordere sowohl neurologisches als auch internistisches Fachwissen. Ein ganzheitlicher Ansatz. »Da bei Patienten mit geistiger oder schwerer Mehrfachbehinderung eigentlich immer mehrere Personen beteiligt sind, müssen wir auch das Umfeld betrachten, eine systemische Perspektive einnehmen.«

Deshalb gibt es im MZEB neben Kollegen aus der Inneren Medizin, Psychiatrie, Orthopädie, Chirurgie und Psychologie auch eine Sozialberaterin. Ebenso wie Ergotherapeuten, Physiotherapeuten und Logopäden. Komplettiert wird das 13-köpfige Team durch die Pflegekräfte im Case Management. »Sie sind das Herzstück des MZEB, übernehmen die Koordination der Befunde und die Organisation der komplexen Behandlungsprozesse«, sagt Chefärztin Lindquist.

Eine genaue Anamnese und Dokumentation von Vorerkrankungen, Zustand und Risikokonstellationen spielen bei der Behandlung von Menschen mit Behinderungen eine zentrale Rolle. Im MZEB wird deshalb bei der Neuaufnahme ein ausführliches sogenanntes Erst-Assessment durchgeführt, bei dem sowohl eine pflegerische Anamnese als auch eine ärztliche Untersuchung, zum Teil in Begleitung von psychologischen oder therapeutischen Kollegen, stattfinden.

Ärzte und Therapeuten nehmen für ihre Untersuchungen häufig Anleihen bei anderen Disziplinen, die ebenfalls mit weniger kooperationsfähigen Menschen zu tun haben. Zum Beispiel bei der Prüfung der Sinnesfunktionen: »Neben Tests mit einfachen Symbolen oder Bildern setzen wir elektrophysiologische Methoden ein, um das Hör- und Sehvermögen von Menschen, die nicht gut mitarbeiten können, objektiv zu bestimmen«, erklärt Dr. Sabine Lindquist.

Nicht allein medizinische Behandlung

Die Medizin ist dabei nur die eine Seite. »Die Verständigung läuft oft sehr unkonventionell ab«, berichtet Dr. Lindquist. »Nicht selten liegt ein Patient draußen in einem Sitzsack und hat sich beruhigt. Dann sagen wir dort ›Hallo‹, verschaffen uns einen ersten Eindruck – wie liegt er da, womit beschäftigt er sich – und versuchen, einen guten Übergang in die Sprechzimmersituation zu schaffen.«

Im Sprechzimmer angekommen, wird den Betroffenen oft erst einmal etwas in die Hand gegeben, damit sie sich wahrgenommen fühlen, eine Aufgabe haben. »Daraus kann ich auch Informationen gewinnen: Wie kann sich der Patient auf die neue Umgebung oder eine Wartesituation einstellen?« Es kommt auch vor, dass die Ärztin ihre Patienten im Gehen untersucht oder Musik spielt, um Verspannungen zu lösen. »Wir müssen erfinderisch sein.«

MZEB ist auch Rückzugsort

»Ich erlebe oft, dass Angehörige in diesem Prozess sehr schnell sein wollen. Ich sage dann: Gemach! Wenn der Patient sich nicht ausziehen oder den Mund aufmachen will, mache ich das eben woanders.« Starre Abläufe gibt es im MZEB nicht. Dafür aber einen Raum, der den Betroffenen als Rückzugsort dient. »Wir haben ja auch Patienten, die nicht gut sehen oder hören können, also viel weniger Kanäle haben, um die fremde Umgebung kennenzulernen. Da ist Angst ein natürlicher Schutzmechanismus.«

Das Team versucht, diese Angst zu nehmen und viel zu erklären, nicht nur mit Worten. »Ich führe die Untersuchungen oft erst einmal vor, an mir selbst oder an der Begleitperson«, sagt die Ärztin und blickt auf Stethoskop und Reflexhammer. »Oder der Patient darf mir in den Mund schauen.« Außerdem versuchen Dr. Lindquist und ihr Team, in einfacher Sprache zu kommunizieren. Wenn eine verbale Kommunikation nicht möglich ist, kommen Kletttafeln mit bekannten Symbolen zum Einsatz.

Enge Kooperationen mit anderen Einrichtungen

»Die Vielfalt der Beeinträchtigungen, der genetischen Syndrome, der Probleme ist eindeutig unsere größte Herausforderung«, so Lindquist. Dem begegnet man zum einen durch Multidisziplinarität. Zum anderen durch Vernetzung. »Man muss seine Grenzen kennen und wissen, welche Spezialisten man mit ins Boot holen kann«, lautet das Credo der Chefärztin, die nach mehrjähriger Tätigkeit am Universitätsklinikum Magdeburg und an der Medizinischen Hochschule Hannover auch Erfahrungen in der neurologischen Rehabilitation gesammelt hat. Deshalb gibt es enge Kooperationen mit der Universitätsmedizin Magdeburg, insbesondere dem Mitteldeutschen Kompetenznetz für Seltene Erkrankungen, aber auch mit dem Städtischen Klinikum Magdeburg sowie einen regen Austausch mit den MZEB in Halle, Neinstedt, Braunschweig und Hannover.

Besonders wichtig ist der Neurologin mit dem Faible für Komplexes auch das Wirken nach innen. »Wir sehen das MZEB als Puzzleteil innerhalb der Pfeifferschen Stiftungen. Als Bindeglied zwischen den Einrichtungen der Behindertenhilfe und dem Gesundheitsbereich. Wir wollen Synergien schaffen, wollen Übergänge und Kommunikation erleichtern.«

MZEB müssen wachsen können

Rund 400 Fälle betreuen Neurologin Lindquist und ihr Team derzeit pro Quartal. Die Patientinnen und Patienten kommen aus allen Teilen Sachsen-Anhalts, aber auch aus den umliegenden Bundesländern: »Es werden weite Wege in Kauf genommen, aus Halberstadt, Stendal, Dessau oder Wolfsburg, um die spezialisierte Versorgung in Anspruch nehmen zu können.«

Ständig werden neue Patienten mit schweren und komplexen Beeinträchtigungen angemeldet, doch die gesetzlichen Krankenkassen begrenzen derzeit die Zahl der Patienten auf dem jetzigen Niveau. »Dieser Bedarf muss gedeckt werden – dazu gibt es eine gesetzliche Verpflichtung im §119c SGBV. Wir sind neue Gesundheitseinrichtungen für Menschen mit besonders hohen Hürden. Wir müssen uns entwickeln und auch spezialisieren können. Deshalb kämpfen wir entschieden gegen enge Fallzahlbegrenzungen«, so Lindquist zu den aktuellen Herausforderungen. »Wir schaffen ein stabiles und leistungsfähiges Versorgungsangebot für Menschen mit geistiger und schwerer Mehrfachbehinderung in Sachsen-Anhalt.«

Weitere Informationen zu den Behandlungsangeboten des MZEB der Pfeifferschen Stiftungen, den Zugangsvoraussetzungen sowie Formulare zum Download finden Sie hier:
Webseite Medizinisches Behandlungszentrum für Erwachsene mit Behinderungen (MZEB)

Ansprechpartner:

Dr. med. Sabine Lindquist, PhD, Fachärztin für Neurologie, Sozialmedizin

E-Mail: sabine.lindquist@pfeiffersche-stiftungen.de

Telefon: (0391) 8505 529

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