Chefarzt Holger Polozek über die Aufgaben des Ethikkomitees
Foto: Andreas Lander/Pfeiffersche Stiftungen Interview

Chefarzt Holger Polozek über die Aufgaben des Ethikkomitees

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Dr. Holger Polozek (56) ist Chefarzt der Klinik für Anästhesiologie im Klinikum der Pfeifferschen Stiftungen und der Lungenklinik Lostau. Seit 2020 ist er Vorsitzender des Ethikkomitees der Pfeifferschen Stiftungen. Dessen interdisziplinäres Beraterteam gibt allen in Therapie, Pflege und soziale Betreuung Involvierten eine ethische Orientierung im Sinne der Diakonie.

Seit der Corona-Pandemie ist der Deutsche Ethikrat mit seinen Aufgaben stärker in den Fokus unserer Wahrnehmung gerückt. Worin unterscheiden sich dessen Aufgaben zu denen eines Klinischen Ethikkomitees?

Dr. Holger Polozek: Der Ethikrat beschäftigt sich mit den großen Fragen des Lebens und bietet mit seinen Empfehlungen gesellschaftliche und politische Orientierungen an. Wir im Klinischen Ethikkomitee beraten alle Personen, die mit der Pflege und Therapie von Menschen befasst sind, einschließlich deren Angehöriger. Dann gibt es noch – das möchte ich betonen, weil es oft verwechselt wird – die Ethikkommissionen, zum Beispiel die der Ärztekammern. Die beurteilen unter anderem ethische, medizinisch-wissenschaftliche und rechtliche Aspekte in der medizinischen Forschung am Menschen. Das machen wir nicht.

Bei der Zertifizierung von Gesundheitseinrichtungen ist die Ethikberatung inzwischen ein Qualitätskriterium. Woher kommt dieser Zugewinn an Bedeutung?

Dr. Holger Polozek: Die Möglichkeiten, das Leben in seinem Verlauf zu beeinflussen, nehmen immer mehr zu – von der Präimplantationsdiagnostik bis zur Sterbehilfe. Die Fragestellungen verändern sich. Früher begaben sich Patientinnen und Patienten in einen paternalistischen Behandlungsstil; Therapien wurden »verordnet«. Heute ist die Patientenautonomie ein wesentlicher Aspekt in der Medizin. Danach haben Patientinnen und Patienten das Recht, über Behandlungen mitzuentscheiden, ihnen zuzustimmen oder sie abzulehnen. Das trägt aber auch so einiges Konfliktpotenzial in sich, nicht nur aufgrund des unterschiedlichen Wissensstandes. Ärzte, Patienten und deren Angehörige haben oftmals unterschiedliche Sichtweisen und Beweggründe. Darum gewinnt die Ethikberatung im Gesundheitswesen zunehmend an Bedeutung.

Unter Ihrem Vorsitz kam es 2020 zu einer Neukonstituierung des Ethikkomitees der Pfeifferschen Stiftungen. Warum war das notwendig?

Dr. Holger Polozek: Die Pfeifferschen Stiftungen sind eine Komplexeinrichtung, zu denen neben den beiden Kliniken im Gesundheitsbereich noch die Bereiche »Wohnen und Assistenz«, »Arbeit und Teilhabe« sowie auch die ambulante und stationäre Pflege von Senioren und Menschen mit Demenzerkrankungen sowie der Palliativ- und Hospizbereich gehören. Daraus ergeben sich unterschiedliche ethische Fragestellungen. Die entsprechende Beratung wird schon seit über zehn Jahren jeweils in den einzelnen Bereichen praktiziert. 2020 war der Wunsch nach einem einheitlichen bereichsübergreifenden Ethikkomitee gereift, das wurde dann auch einstimmig beschlossen. Die Mitglieder unseres Ethikkomitees kommen aus der Ärzteschaft, aus dem Pflege- und Sozialdienst, aus der Psychologie und Seelsorge, aus der Verwaltung und nicht zuletzt aus der Rechtsberatung.

In welchem Handlungsspielraum bewegt sich das Ethikkomitee?

Dr. Holger Polozek: Unsere Ethikarbeit geschieht weitgehend im Rahmen der Qualitätskriterien der Bundesärztekammer und deren medizinisch-pflegerischer Fachgesellschaften. Wir im Ethikkomitee konkretisieren diese dann passend zu unseren Einrichtungen. Die Pfeifferschen Stiftungen sind eine diakonische Einrichtung. Wir leisten medizinische, pflegerische und soziale Arbeit im Sinne der evangelischen Kirche. Beispielsweise hat unser Ethikkomitee den Wegfall des Paragraphen 217, also des Verbots geschäftsmäßiger Sterbehilfe, intensiv diskutiert. Auch unsere Mitglieder bilden den Querschnitt der Gesellschaft ab. Wir müssen keineswegs immer einer Meinung sein, ein Votum kann auch sehr knapp ausfallen. Im besagten Fall werden die Pfeifferschen Stiftungen keinen assistierten Suizid anbieten.

Die Corona-Pandemie war eine besondere Herausforderung für medizinische Einrichtungen. Auch für Ihre ethische Arbeit?

Dr. Holger Polozek: Die Corona-Pandemie brachte auch für uns die Erfahrung, an gesetzliche Vorschriften gebunden zu sein, die uns keinen Spielraum lassen. Es war sehr schmerzlich mit anzusehen, dass unsere Bewohner in den Pflegeeinrichtungen und die Patienten in den Kliniken keinen Besuch bekommen durften und sich die Sterbebegleitung nicht wie gewohnt gestalten ließ. Noch dramatischer waren die Auswirkungen auf Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen. Deren Tagesstruktur brach zusammen, ihre gewohnten Ansprechpartner waren nicht da. Sie gerieten in eine soziale Isolation.
Auf unser Personal bezogen hatten wir Bedenken, ob es dem Druck standhalten würde. Aber alle waren hochmotiviert, wohl aus dem tragenden Gefühl heraus, gebraucht zu werden. Im Klinikbetrieb mussten glücklicherweise keine Triage-Entscheidungen getroffen werden. In solchen Situationen kämen unsere Angebote zur Supervision zum Einsatz. Wir haben alles dokumentiert, werden die Probleme aufarbeiten und uns in die politische und gesellschaftliche Debatte darüber einbringen.

Welche konkreten Angebote macht das Ethikkomitee sowohl den Mitarbeitenden und Patienten Ihrer Einrichtungen als auch den Angehörigen?

Dr. Holger Polozek: Wir bieten allen drei Zielgruppen ethische Fallbesprechungen an. Die ergeben sich oft im Zusammenhang mit Therapieentscheidungen. Patientinnen und Patienten und deren Angehörige fühlen sich häufig überfordert, diesbezügliche Entscheidungen zu treffen. Auch innerhalb eines Behandlungsteams können ethische Fragestellungen und Konflikte entstehen. Unsere ausgebildeten Ethik-Moderatoren agieren mit sehr viel Verständnis und Einfühlungsvermögen. Entsprechende Ausbildungen erhalten sie in der »Akademie für Ethik in der Medizin«.
Ein Ausbildungsangebot ist zum Beispiel die ACP-Beraterausbildung. ACP heißt »Advance Care Planning«. Die ACP-Berater bieten Bewohnerinnen und Bewohnern von Pflege- und Hospizeinrichtungen an, sie bei der Planung ihres letzten Lebensabschnittes zu begleiten. Für den Fall, dass die Betroffenen selbst nicht mehr entscheiden können, sind die ACP-Berater befähigt, deren Wünsche und Vorstellungen zu formulieren.

Wie sind Sie selber zur Ethikarbeit gekommen?

Dr. Holger Polozek: In meinem Beruf bewegt man sich häufig an der Grenze zwischen Leben und Tod. Da zu meinen Studienzeiten palliativmedizinische Aspekte noch nicht so sehr im Fokus der Ausbildung standen, habe ich das später häufig als Defizit empfunden und eine Zusatzausbildung in Palliativmedizin absolviert. Und ich habe mich zum Ethikberater im Gesundheitswesen ausbilden lassen. Mit diesen Kenntnissen trat ich 2019 die Stelle des Chefarztes der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin an der Lungenklinik Lostau an, verbunden mit der Leitung des Klinischen Ethikkomitees. Bereits an meiner vorhergehenden Wirkungsstätte hatte ich deren Klinisches Ethikkomitee geleitet.

Autorin: Kathrain Graubaum

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